Der Prophet Joseph träumt als Kind, dass sich Sonne und Mond und elf Sterne vor ihm verbeugen. Als Joseph Jahre später am Hof des ägyptischen Pharaohs von seinen elf Brüdern aufgesucht wurde, die ihn um Essen anbettelten, rief Joseph aus: „Das ist die Interpretation meines damaligen Traums. Mein Herr hat ihn wahr gemacht!” (Koran 12:99).
Quelle: Walters Art Museum, Public Domain
Ein Traum zeigt die Tiefe des Lebens.¹
Hazrat Inayat Khan
Viele spirituelle Traditionen betrachten Träume als Tor zu einer anderen, tieferen Wirklichkeit. Im Alltag sind wir oft geneigt, Träume als irreal abzutun, als Fantasien. Doch trifft das wirklich zu? „Vielleicht ist es genau umgekehrt, nämlich dass wir im Schlaf erwachen von unserem erdgebundenen Bewusstsein” ², meint Pir Vilayat Inayat Khan. Während wir im Alltag in unseren Konzepten und Denkmustern gefangen sind, werden im Traum die Grenzen zwischen den verschiedenen Bewusstseinsebenen in unserem Wesen viel durchlässiger, und Informationen aus den höheren Schichten unseres Wesens können leichter durchdringen.
Innerhalb der Inayatiyya hat sich vor allem Nigel Hamilton, Repräsentant der Inayatiyya UK und Gründer des Centre for Counselling & Psychotherapy Education in London, intensiv mit den Potenzialen des Träumens beschäftigt. Einerseits helfen uns Träume, unsere persönliche innere Welt besser zu verstehen. Gleichzeitig befähigt uns die Auseinandersetzung mit unseren Träumen, Zugang zu unserer Intuition zu bekommen, zum Geist der inneren Führung. Nigel Hamilton:
Indem wir durch die persönliche Dimension hindurchbrechen, entdecken wir ein viel tieferes und reicheres Selbst, das transpersonale Selbst. Schließlich führt diese Suche zu der Entdeckung, dass sich hinter jedem Traum das göttliche Licht befindet, nicht weitere Träume, sondern nur reines Licht. Das ist der Anfang der Erleuchtung, worin wir die Bilder transzendiert haben und über die Dualität hinausgegangen sind. Es ist der nicht-träumende, erwachte Zustand der Einheit.³
Der Wachtraumprozess
Vor allem im Retreat kann es hilfreich sein, die Träume in den Prozess einzubeziehen. Denn gerade hier, wo wir von den Einflüssen der Außenwelt abgeschirmt sind, zeigen uns die Träume genau, in welchem Zustand und in welchem Stadium der Entwicklung wir uns gerade befinden. Unsere Träume spiegeln uns wider, auf welcher Bewusstseinsebene wir uns bewegen. Sie sagen uns, welchen Herausforderungen wir uns stellen müssen, um in unserer Entwicklung voranzukommen. Und auch, was uns daran hindert, den nächsten Schritt zu tun.
Doch auch im Alltag kann uns die Auseinandersetzung mit unseren Träumen helfen, Hindernisse aus dem Weg zu räumen und in tieferen Kontakt mit der Energie, der Weisheit und dem Licht hinter den Träumen zu kommen. Zu diesem Zweck hat Hamilton den Wachtraumprozess entwickelt, eine Methode, bei der die Klient:innen unter Anleitung eines geschulten Traumguides den Traum in ihrer Imagination noch einmal durchleben, diesmal aber bewusst.
Ein wichtiger Teil des Prozesses ist dabei, auf die Resonanz des Traumgeschehens im Körper zu achten, d.h. zu spüren, wo im Körper die Traumenergie gefühlt werden kann. Dieses „gefühlte Erleben” hilft uns, die Traumarbeit authentisch zu machen und zu „erden”. Hamilton:
Wenn wir mit dem gefühlten Erleben der Träume im Körper arbeiten, arbeiten wir mit der ganzen Person – mit Körper, Denken, Seele und Geist.⁴
Wie wir Träume besser erinnern können
- Die Erinnerung an unsere Träume kann trainiert werden. Das Wichtigste dabei ist die Intention. Wenn wir jeden Tag vor dem Einschlafen den festen Entschluss fassen, dass wir uns am folgenden Morgen an unsere Träume erinnern wollen, wird das vermutlich bald Früchte zeigen.
- Hilfreich ist es auch, vor dem Einschlafen eine kleine Atem- oder Entspannungsübung zu machen, um unseren Geist offen und empfänglich für die Traumwelt zu machen.
- Beim Aufwachen ist es wichtig, etwaige Träume sofort aufzuschreiben oder in ein bereitliegendes Diktiergerät zu sprechen, am besten bevor wir uns viel bewegt haben oder gar aufgestanden sind. Denn die Traumerinnerungen sind sehr flüchtig. Zu diesem Zweck sollten Papier und Schreibstift oder ein Diktaphon auf dem Nachtkästchen bereit liegen.
Die Möglichkeit zu spiritueller Traumarbeit bietet sich bei Traumworkshops mit Nigel in Zürich (jährlich Anfang September) oder auf dem Sufi-Camp im Schweizer Tessin (alle 2 bis 3 Jahre). Einzelarbeit mit Träumen ist auch im Raum Wien bei Ingrid Dengg möglich. Nähere Infos dazu findest du hier >
Eine ausführliche Erklärung der Grundlagen und Methoden der spirituellen Traumarbeit findet sich in Nigel Hamiltons Buch Erwachen durch Träume. Eine Reise durch die innere Landschaft
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² Khan, Pir Vilayat Inayat 2004: The Message in Our Time. The life and teaching of the Sufi Master Pir-o-Murshid Inayat Khan, Omega Publications, New Lebanon/USA, S. 186.
³ Hamilton, Nigel: Traumarbeit aus einer Sufi-Perspektive. Teil 1 von 5 Monatsübungen zum Thema spirituelle Traumarbeit, April 2009, S. 1.
⁴ Hamilton, Nigel 2019: Erwachen durch Träume. Eine Reise durch die innere Landschaft. Übers. v. Ingrid Dengg, tredition Verlag, Hamburg, S. 259.