Pir Vilayat Inayat Khan

Pir Vilayat Inayat Khan (1916–2004)

Wer Pir Vilayat persönlich begegnete, spürte vor allem die tiefe Authentizität, die von seinem Wesen ausstrahlte. Er zeigte seine Schwächen genauso offen wie seine Stärken, seine Selbstzweifel genauso wie seine Überzeugungen. Er selbst sagt dazu:

Wer bereit ist, jenen Archetyp zu verkörpern, der das höhere Selbst der Menschen repräsentiert, wird wählen müssen, ob er seinen Schatten kunstvoll verbirgt und, sofern er entdeckt wird, ihn scheinheilig rechtfertigt, oder ob er sich stattdessen dem forschen Blick und der Kritik aller aussetzt. Wenn man die Ehrlichkeit und den Mut besitzt, sich mit den eigenen Unzulänglichkeiten auseinanderzusetzen, wird man die Probleme der Menschen besser verstehen, indem man sich selbst in anderen sieht, und die anderen in sich selbst. Und man wird auf diese Weise jenen, die ebenfalls ihre Schattenanteile transformieren müssen, echte Hilfe anbieten können.¹

Pir Vilayat verstand es, die Herzen zu öffnen. Mit seiner Authentizität, seiner Liebe zu den Mitmenschen und seiner Begeisterungskraft für das Heilige oder das „Universum“, wie er es später oft nannte, inspirierte er viele Suchende auf der ganzen Welt. So wie sein Vater hielt auch Vilayat Inayat Khan die Idee hoch, dass alle Religionen letztlich zu dem gleichen Ziel führen. Er organisierte zahlreiche interreligiöse Veranstaltungen und nahm an vielen Konferenzen über Spiritualität, Naturwissenschaft und Psychologie teil.

Sein Ziel war es, eine zeitgemäße Spiritualität zu entwickeln, die die Erkenntnisse der Naturwissenschaften und der Psychologie mit einbezog. Und eine Spiritualität, die im Alltag, mitten im täglichen Leben ihren Platz hatte. Stets wissbegierig, beschäftigte er sich mit den Lehren des Buddhismus und des Christentums genauso wie mit Yoga und Alchemie. Und so wie bei seinem Vater war auch seine Spiritualität tief mit der Musik verbunden, vor allem mit jener von Johann Sebastian Bach.

Vilayat Inayat Khan wurde am 19. Juni 1916 in London geboren, als zweites der insgesamt vier Kinder von Hazrat Inayat Khan und seiner Frau Amina Begum, geb. Ora Ray Baker. So wie seine Geschwister widmete sich auch Vilayat zunächst der Musik. Er studierte Cello bei Maurice Eisenberg an der École Normale de Musique in Paris. Im Alter von 18 Jahren erinnerte ihn Murshida Fazal Mai daran, dass sein Vater ihn zum Nachfolger bestimmt hatte. Vilayat begann deshalb auch Philosophie zu studieren, und Sufismus bei Louis Massignon.

1940 folgten die Kriegsjahre. Während Noor als Funkerin und Geheimagentin ins besetzte Paris geschickt wurde, um dort die Verbindung zwischen den Alliierten und der französischen Résistance aufrechtzuerhalten, trat der junge Vilayat in London der Royal Navy bei, wurde Offizier auf einem Minenräumboot und war bei der Landung der Alliierten in der Normandie für die Räumung des Fahrwassers zuständig.

Er, der stets eine besonders enge Beziehung zu seiner Schwester Noor unterhalten hatte, war tief geschockt, als er von ihrer Ermordung im KZ Dachau erfuhr. Drei Jahre später, 1947, starb auch noch Vilayats Verlobte bei einem Verkehrsunfall. Er erzählt:

Das Leid war zu groß. Ich konnte den Menschen nicht mehr ins Gesicht sehen, besonders solchen, die ich kannte. Dieser Vorfall ereignete sich genau zu der Zeit, als mein lieber Onkel Sheikh-ul-Masheik Maheboob Khan mich zur Vorbereitung auf meinen zukünftigen Auftrag stärker in die Arbeit der Sufi-Bewegung einbeziehen wollte. Mit gebrochenem Herzen musste ich Abstand davon nehmen.²

Vilayat heilte sich nach eigener Aussage damals selbst, indem er sich ein Jahr lang jeden Abend die gesamte h-Moll-Messe von Johann Sebastian Bach vorspielte. Und er ging zunächst bürgerlichen Berufen nach. Er bewarb sich als Offizier der Bristish Navy für eine Stationierung in Indien, nahm eine Stellung in der pakistanischen Botschaft an und wurde Privatsekretär des damaligen Premierministers Ghulam Mohammed während seines Europabesuchs wegen der Sterling-Gespräche. Und als Korrespondent für die Zeitung „Dawn” in Karachi berichtete er über die Gräuel im Zusammenhang mit den nordafrikanischen Unabhängigkeitskämpfen.

Während dieser Zeit, von 1947 bis 1957, unternahm Vilayat auch einige Reisen nach Indien zu den Rishis im Himalaya und anderen heiligen Stätten, um sich auf seine Rolle als Pir vorzubereiten. Er meditierte in der Nähe des Bodhi-Baums in Bodh Gaya, machte ein Retreat im Kloster von Montserrat, besuchte den Berg Athos, meditierte am Ölberg in Jerusalem, hielt Retreats mit den Sufis in Ajmer/Indien. In Hyderabad führte Sayed Fakhruddin Jili-Kalimi ihn in die Methoden der Chishti-Nizami-Kalimi-Linie ein und ernannte ihn nach einem vierzigtätigen Retreat zum Pir. Eine Ernennung, die später in Ajmer von Diwan Saulat Husayn Chishti bestätigt wurde.

Da sich das von seinem Vater gegründete Sufi Movement in der Zwischenzeit ohne ihn weiterentwickelt hatte, erkannte Pir Vilayat, dass dies der falsche Zeitpunkt war, um die Nachfolge seines Vaters für sich zu beanspruchen. Und so gründete er eine eigene Organisation auf den Grundlagen von Hazrat Inayat Khans ursprünglicher Londoner Verfassung, die er „Sufi Order International” nannte.

In diesen Jahren reiste er viel, hielt Seminare und Vorträge und gründete Sufi-Zentren in mehreren Ländern. 1968 lernte er Murshid Samuel Lewis kennen. Und Samuel Lewis schlug vor, die Anhänger:innen von Ruhaniat und Sufiorder International gemeinsam zu unterrichten. Pir Vilayats Sohn Zia Inayat Khan sagt über diese Zeit: „Es war ein plötzliches kulturelles Aufblühen, eine „Aussteiger“-Kultur jener, die das Establishment ablehnten und nach neuen Formen des Verständnisses und neuen erkenntnistheoretischen Rahmenbedingungen suchen wollten.“³

Probleme tauchten jedoch auf, als Murshid Sam 1971 starb. Pir Vilayat zufolge ging es dabei hauptsächlich um unterschiedliche Standpunkte zum Gebrauch von Drogen, den er selbst in einer Deklaration von 1977 offen ablehnte. Die meisten Anhänger von Murshid Sam verließen damals die Sufi Order (heute: Inayatiyya).

Doch Pir Vilayat widmete sich bereits seinem nächsten Projekt. 1975 kaufte der Orden einen Gebäudekomplex in New Lebanon, New York, wo Pir Vilayat in einem ehemaligen Shaker Village mit alten Holzhäusern inmitten eines ursprünglich belassenen Mischwalds die „Abode of the Message” gründete und gemeinsam mit seiner Familie und rund 75 Sufi-Gefährt:innen den Traum einer Sufi-Kommune verwirklichte, in der die Sufi-Ideale wirklich gelebt werden konnten.

In seinen spirituellen Praktiken widmete sich Pir Vilayat primär der Arbeit mit Atem und Licht. Er schätzte vor allem die aus der Yogatradition übernommene Übung des Qasab, die beides miteinander verbindet. Ja mehr noch, sie hilft laut Pir Vilayat, die Vergangenheit durch die Zukunft zu heilen und umgekehrt. Beim Qasab atmet man abwechselnd durch durch linke und das rechte Nasenloch ein. Dazwischen hält man den Atem an. Und genau dieser Augenblick begünstigt die Erfahrung dessen, was die Sufis den „Augenblick der Zeit“ nennen. In diesem Zusammenhang zitierte Pir Vilayat immer wieder einen Ausspruch des Sufimeisters Ali ibn Uthman al-Hujwiri:

Der Augenblick ist ein schneidendes Schwert … (er) zertrennt die Wurzel der Zukunft und der Vergangenheit und tilgt die Sorge um das Gestern oder Morgen aus dem Herzen.⁴

Vor allem aber widmete sich Pir Vilayat immer wieder seinen Lichtmeditationen, die er im Lauf der Zeit immer mehr verfeinerte. Pir Zia: „Er sprach schließlich von sieben Ebenen des Lichts. Und gegen Ende sprach er sehr viel vom Bewusstsein der Galaxien.“⁵

Pir Vilayat selbst sagte kurz vor seinem Tod:

Ich werde nicht mehr in der Lage sein, Seminare zu geben. Aber ich arbeite mit den sieben Ebenen des Lichts, und ich werde auf diese Weise bei unseren Murids sein.⁶

Am 17. Juni 2004 starb er. Als Seine Heiligkeit der Dalai Lama von seinem Tod hörte, schrieb er: „Ich habe große Bewunderung für ihn. Sein Tod ist ein großer Verlust, besonders für diejenigen, die nicht nur dem spirituellen Weg folgen, sondern auch an Toleranz gegenüber anderen religiösen Traditionen glauben.“ ⁷

 

Videos mit Pir Vilayat:

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¹ Elixir (Nr. 1/2005). Interspirituality, hrsg. von der Sufi Order International, New Lebanon/N.Y., S. 35.

² Sifat (Juli 2004). Heimgang der Seele. Zeitschrift für universalen Sufismus, hrsg. von Marita Ischtar Dvorak und Wolfgang Hurakhsh Meuthen, Undeloh/Dtl., S. 41.

³ Heart&Wings. Memorial Issue Pir Vilayat Inayat Khan. 19 June, 1916 – 17 June, 2004, hrsg. von der Sufi Order International, North American Secretariat, S. 8.

⁴ Nicholson, Reynold A. 1999: Revelation of the Mystery. Al-Hujwiri. Pir Publications, New York, S. 369.

⁵ Heart&Wings. Memorial Issue, S. 17.

⁶ Heart&Wings. Memorial Issue, S. 1.

pirzia.org

 

Pir Vilayat Inayat Khan, Nekbakht Foundation