„Ich sehe so klar wie Tageslicht, dass der Tag kommen wird, da die Frauen die Menschheit auf eine höhere Entwicklungsstufe heben werden.”¹ Diese Vision Hazrat Inayat Khans aus dem Jahr 1914 zeugt von der großen Weltoffenheit und Modernität, die sein Denken von Anfang an prägte. Inayat Khan kam aus Indien, einer stark patriarchalisch und vom Kastenwesen geprägten Gesellschaft. Doch mit seinen Ideen von Gleichheit und Toleranz zeigte er sich sogar deutlich liberaler als westliche Zeitgenossen.
Inayat Khan wurde am 5. Juli 1882 in der indischen Stadt Baroda geboren. Sein Vater stammte aus einer alten Sufifamilie aus dem Panjab. Es war aber vor allem die enge Beziehung zu seiner Mutter Khatija Bi, die den jungen Inayat prägte. Es soll seine Mutter gewesen sein, die ihn mit dem Gedanken der Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern inspirierte, schreibt Sara Kuehn et al. in einem Artikel über die österreichische Inayatiyya.² Khatija Bi war hochgebildet und sprach Arabisch, Persisch und Urdu. Im Haus von Inayats Eltern waren Menschen aller Glaubensrichtungen willkommen, von Hindus über Moslems und Zoroastern bis zu Christen und Juden. Bereits damals wurden die Grundlagen für Inayat Khans spätere Ausrichtung des universellen Sufismus gelegt, der für Menschen aller Farben, Ethnien, Religionen und Bildungsschichten gleichermaßen offen ist.
Auch der Großvater mütterlicherseits, Maulabakhsh, hatte großen Einfluss auf den jungen Inayat. Maulabakhsh war damals ein in ganz Indien berühmter Musiker, der auch die Musikschule Gayanshala gegründet hatte (heute: Baroda University Faculty of Music). Inayat lernte von seinem Großvater die Grundlagen klassischer indischer Musik. Und als er mit neun Jahren bekannte Sanskrit-Hymnen am Hof des Maharadschas sang, war dieser so begeistert, dass er ihn hoch ehrte und für seine weitere Ausbildung sorgte. Die Musik war auch Inayats Zugang zur Spiritualität. Er selbst sagt:
Wer das Wissen über den Klang besitzt, kennt in der Tat des Geheimnis des Universums. Meine Musik ist mein Denken und mein Denken ist mein Fühlen. Je tiefer ich in den Ozean der Emotionen eintauche, umso schöner sind die Perlen, die ich als Melodien hervorbringe … Meine Musik ist meine Religion.
Auf der Suche nach einem spirituellen Lehrer begegnete der 22jährige Inayat Khan schließlich seinem Lehrer Syed Mohammad Hashim Madani in Hyderabad, der ihn in den indischen Sufiorden der Chishtiyya einweihte. Laut Kuehn et al.² ist die Chishtiyya nicht nur einer der größten und wichtigsten Sufiorden weltweit, sondern auch einer der liberalsten in kulturellen und religiösen Fragen. Daneben erhielt Inayat Khan auch Einweihungen in die Suhrawardiyya, Nakhshbandiyya und Qadiriyya, also die bedeutendsten Sufiorden seiner Zeit. Einweihungen in mehrere verschiedene Orden sind durchaus üblich unter Sufis. Auf diese Weise sollen Rivalitäten zwischen den einzelnen Orden im Keim erstickt werden.⁴
Insgesamt verbrachte Inayat Khan vier Jahre als Hashim Madanis Schüler in Hyderabad. 1907 erhielt er von seinem Lehrer den Auftrag, die Weisheit der Sufilehre in den Westen zu bringen. Am 13. September 1910 war es dann so weit. Inayat Khan fuhr mit seinem Bruder Maheboob Khan und seinem Cousin Muhammad Ali Khan zunächst in die USA und dann nach Europa (siehe auch > Geschichte der Inayatiyya).
Anfangs lehrte Inayat Khan traditionellen Sufismus. Doch bald entwickelte er – als Antwort auf das neue kulturelle Umfeld, in dem er sich bewegte – eine „kreative und weitsichtige Erneuerung der Sufi-Tradition” (Zia Inayat Khan).⁵ Hazrat Inayat Khan schreibt in seiner Autobiographie:
Viele denken, Sufismus ist die mystische Seite des Islam, … und sie wurden darin bestärkt, indem sie wussten, dass ich per Geburt Moslem bin. Natürlich konnte ich ihnen nicht sagen, dass es sich dabei um eine universelle Botschaft unserer Zeit handelt, denn nicht jeder Mensch ist in der Lage, das zu verstehen.¹
1912 heiratete Hazrat Inayat Khan die US-Amerikanerin Ora Ray Baker, mit der er insgesamt vier Kinder hatte. Inayat Khan reiste viel und verdiente seinen Lebensunterhalt zunächst hauptsächlich als Musiker, gemeinsam mit seinen indischen Reisegefährten. Die Kriegsjahre und die unmittelbare Nachkriegszeit verbrachte er gezwungenermaßen in London, wo er die Zeit nutzte, um dem „Sufi Movement”, wie er seine Bewegung nannte, eine tragfähige Struktur zu geben. 1920 übersiedelte die Familie nach Frankreich. 1926 fuhr Hazrat Inayat Khan nach 16 Jahren im Westen zum erstenmal wieder nach Indien, wo er kurz darauf am 5. Februar 1927 an den Folgen einer schweren Verkühlung starb.
Hazrat Inayat Khans Auffassung von Sufismus ist geprägt von Toleranz und Respekt. Für ihn sind Liebe, Harmonie und Schönheit die zentralen Elemente, die die Menschen zu einer Kultivierung des Herzens und letztlich zu Weisheit führen.
Videos zu Hazrat Inayat Khan:
The Way of the Heart. The life and legacy of Hazrat Inayat Khan > (demnächst verfügbar)
Video: Pir Vilayat Remembers Murshid Inayat Khan
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¹ Guillaume-Schamhart, Elise and Munira van Voorst van Beest ed. (1979). The Biography of Pir-o-Murshid Inayat Khan. London and The Hague: East-West-Publications. Quelle: wahiduddin.net
³ Zitiert aus einer bislang unveröffentlichten Biografie von Meher Bakhsh über seinen Cousin Inayat Khan.
⁴ Kugle, Scott (2012). Sufi Meditation and Contemplation. Omega Publications, New Lebanon and New York, S. 15.
⁵ Khan, Zia Inayat (2001). The „Silsila-i Sufian“, in: A Pearl in Wine, Omega Publications, New Lebanon, S. 321.