Weisheit der Sufis

Die Sufis sind bekannt für ihre leidenschaftliche Liebeslyrik und ihre bisweilen paradoxen, aber tiefgehenden Weisheiten. Hier ist eine kleine Auswahl an Zitaten. Einige davon stammen aus der wunderbaren Gedichtsammlung von Omid Safi, „Radical Love”, die hier mit Erlaubnis des Herausgebers wiedergegeben werden.

Tanzende Derwische, Illustration aus einem unbekannten Manuskript, ca. 1480/1490, von Kamal ud-Din Behzad; The Metropolitam Museum of Arts, Rogers Fund, 1917, 17.81.4, Public Domain

Ich war ein verborgener Schatz
und liebte es
gekannt zu werden
Also schuf ich Himmel und Erde
damit sie mich kennen¹

Hadith Qudsi und zentrales Axiom der Sufis

Ich liebe dich mit zwei Arten von Liebe:
eine ist ichbezogen
und die andere Deiner würdig

Es ist die ichbezogene Liebe
mit der ich nur an Dich denke
mit jedem Gedanken

Und es ist die reinste Liebe
wenn Du die Schleier lüftest
für meinen verehrenden Blick

Ich achte nicht auf Lob für diese oder jene
denn ich weiß
Dein ist das Lob für beide²

Rabi’a al-Adawiyya, Basra/Iraq, 8. Jh.

Wo Fragen sind
wird es Antworten geben
Wo Schiffe sind
wird Wasser fließen

Verbring weniger Zeit damit
Wasser zu suchen
und vermehre den Durst!
Dann wird das Wasser
von oben und unten
herbeiströmen³

Jalaluddin Rumi, Balkh/Afghanistan, 1207-1273

Was ist der Sufiweg?

Freude zu finden
im Inneren des Herzens

wenn Traurigkeit
kommt.”⁴

Jalaluddin Rumi

Die Wunde ist es
durch die das Licht
in dich eindringt⁵

Jalaluddin Rumi

Eine Fliege saß
auf einem Strohhalm
auf einer Pfütze aus Eselspisse

voller Stolz hob sie ihren Kopf:

„Ich bin die Kapitänin dieses Schiffes,
Herrin dieses Ozeans.”⁶

Jalaluddin Rumi

Lieber Freund
dein Herz ist ein polierter Spiegel

Du musst den Schleier des Staubs wegwischen,
der sich darauf abgesetzt hat

denn es ist dazu bestimmt
das Licht
der göttlichen Geheimnisse
zu reflektieren⁷

Abd al-Qadir al-Jilani, Jilan/Iran, 1077/78–1166

Sie, die sich selbst kennt
kennt Gott

Das ist der Grund, warum Junayd sagt:
Wasser nimmt die Farbe des Gefäßes an⁸

Faqruddin ‘Iraqi, Komijan/Iran, 1213–1289

Kharaqani wurde gefragt:
„Wo siehst du Gott?”

Er sagte:
„Wo immer ich mich nicht selbst sehe.”⁹

Abu’l Hassan al-Kharaqani, Khorasan/Iran, 963–1033

Ich werfe mein Ego ab
so wie eine Schlange
ihre alte Haut abwirft¹⁰

Abu’l Hassan al-Kharaqani

Aisha wurde nach der Notwendigkeit gefragt,
ein schönes Verhalten gegenüber der Menschheit zu zeigen.

Sie antwortete:

Wer den Künstler liebt,
verherrlicht die Kunst¹¹

Aisha, Tochter von Abu Uthman, Nishapur/Iran, 9. o. 10. Jh.

Eine Sufifrau namens Mu’adha wurde gefragt,
wie man im Einklang mit Gottes Worten
„Vergib mit einem schönen Vergeben” leben könne.

Sie antwortete:

Sei zufrieden:
Akzeptiere die Menschen,
ohne ihnen Vorwürfe zu machen¹²

Mu’adha Umm Al-Aswad, Basra/Iraq, 7.-8. Jh.

Der Sufiweg ist dieser:

Du besitzt
nichts

Nichts
besitzt dich¹³

Abu Nasr al-Sarraj, Khorasan/Iran, 10. Jh.

Der Weg ist
ein lodernder Blitz
der alles
verbrennt¹⁴

Abu Bakr al-Shibli, Baghdad/Iraq, 861–946

Vertreibe leere Melancholie aus deinem Kopf
verringere deinen Stolz
und vermehre deine Bedürftigkeit

Deine Meisterin
ist die Liebe:

Wenn du sie erreichst
sagt sie dir
mit der Zunge der Ekstase
was zu tun ist¹⁵

Shihabuddin Yahya Suhrawardi, Sohrevard/NW-Iran, 1154–1191

Ich blicke auf die Wüste
und sehe Dich

 ich blicke aufs Meer
und sehe Dich

ich blicke auf Berge, Täler und Ebenen
und sehe nichts als die Zeichen
Deiner atemberaubenden Gestalt¹⁶

Baba Taher, Hamadan/NW-Iran, 11. Jh.

Dein Licht ist in allen Formen
Deine Liebe in allen Wesen¹⁷

Hazrat Inayat Khan, Baroda/Indien, 1882–1927

Wenn du mit dem Rücken
zur Sonne stehst

ist dein Schatten vor dir

aber wenn du dich umdrehst
und der Sonne gegenüberstehst

fällt dein Schatten hinter dich¹⁸

Hazrat Inayat Khan, Baroda/Indien, 1882–1927

Wenn du Mich nicht
hinter jedem Paar von Gegensätzen
mit einer einzigen Vision siehst

erkennst du Mich nicht¹⁹

Muhammad ibn Abd al-Jabbar al-Niffari, Niffar/Iraq, 10. Jh.

„Oh Mensch
wüsstest du nur
dass du frei bist!

Dass du das nicht weißt
darin besteht dein Gefängnis.“²⁰

Vilayat Inayat Khan, London, 1916–2004

Der Augenblick
ist ein schneidendes Schwert

denn es ist
die Charakteristik eines Schwertes
zu schneiden

Der Augenblick
zertrennt die Wurzel
der Zukunft und der Vergangenheit

und tilgt
die Sorge
um das Gestern oder Morgen
aus dem Herzen²¹

Ali ibn Uthman al-Hujwiri, Ghazni/Afghanistan, 1009–1072

Abu Sa’id al-Kharraz wurde gefragt:
„Wodurch hast du Gott erkannt?“

„Durch die Tatsache
dass Er Gegensätze
miteinander vereint.“²²

Abu Sa’id al-Kharraz, Baghdad/Iraq, 9. Jh.

Übersetzung aus dem Englischen: Ingrid Dengg

___________

¹ Khan, Vilayat Inayat 2003: In Search of  the Hidden Treasure, Tarcher/Putnam, New York, S. 13.

² Al-Kalabadhi, Abu Bakr 2006: The Doctrin of the Sufis, transl. from the Arabic by Arther Johan Arberry, Kitab Bhavan, Delhi, S. 101.

Abu Bakr al-Kalabadhi nennt “einen der Sufis” als Autor dieses Gedichts, Abu Talib al-Makki schreibt es Rabi’a al-Adawiyya zu.

³ Jaffray, Angela: Watered with One Water – Ibn ‘Arabi on the One and the Many. Quelle >

⁴ Safi, Omid 2018: Radical Love, Yale University Press, New Haven and London 2018, S. 90.

⁵ Safi 2018, S. 222.

⁶ Safi 2018, S. 255.

⁷ al-Jilani, Abd al-Qadir 1992: The Secret of Secrets, interpreted by Shaykh Tosun Bayrak al-Jerrahi al-Halveti, The Islamic Texts Society, S. XLVII.

⁸ Safi 2018, S. 77.

⁹ Safi 2018, S. 64.

¹⁰ Safi 2018, S. 135.

¹¹ Safi 2018, S. 250.

¹² Safi 2018, S. 248.

¹³ Safi 2018, S. 89.

¹⁴ Safi 2018, S. 92.

¹⁵ Thackston, Wheeler 1999: Shihabuddin Yahya Suhrawardi. The Philosophical Allegories and Mystical Treatises. Mazda Publishers, Costa Mesa, S. 71.

¹⁶ Allen, Edward Heron et. al.: The Divan of Baba Taher. Mashhad/Iran. Introduction.

¹⁷ Khan, Hazrat Inayat 2005: The Complete Sayings. Omega Publications, New Lebanon, S. 55.

¹⁸ Khan 2005, S. 227.

¹⁹ Arberry, Arthur John 1935: The Mawaqif and Mukhatabat of Muhammad Ibn ‚Abdi ‚L-Jabbar Al-Niffari, University Press, Cambridge, S. 55.

²⁰ Pir Vilayat hat dieses Zitat oft verwendet. Die Version hier stammt aus einem Gespräch mit Jeffrey Mishlove. Quelle >

²¹ Nicholson, Reynold A. 1999: Revelation of the Mystery. Al-Hujwiri. Pir Publications, New York, S. 369.

²² Chittick, William 1989: Sufi Path of Knowledge: Ibn Arabi’s Metaphysics of Imagination. Suni Press, New York, S. 115.