Entwicklung des Herzens

Wir haben Augen um zu sehen, Ohren um zu hören, und unsere Sinnesorgane erlauben uns, unsere Umwelt zu erfahren. Unser Verstand hilft uns, die Welt zu verstehen und uns in ihr zurechtzufinden. Aber all das erlaubt uns nicht, Gott zu erkennen. Das einzige, womit wir Gott erkennen können, ist unser Herz. Ein alter Sufi erzählte: „Überall habe ich Gott gesucht, in den Tempeln, in Kirchen, in den Moscheen. Nirgendwo habe ich Ihn gefunden, bis ich Ihn letztendlich im eigenen Herzen gefunden habe“.

Dazu aber muss das Herz lebendig und einfühlsam sein. Hazrat Inayat Khan sagte, dass der Sinn des Lebens darin besteht, alle Höhen und Tiefen menschlicher Existenz zu durchschreiten, sodass die Seele letztendlich jene Freiheit wiederfindet, die von Anfang an ihr Erbrecht war. Und auch Johann Wolfgang von Goethe meinte:

Alles geben die Götter, die unendlichen,
Ihren Lieblingen ganz,
Alle Freuden, die unendlichen,
Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.¹

Um das Leben in dieser Fülle und Tiefe zu leben, muss das Herz offen und lebendig sein. Angesichts großen Schmerzes ist es eine natürliche Reaktion, das Herz schützen zu wollen, es mit einem schützenden Wall zu umgeben, durch den kein Schmerz mehr dringen kann. Damit aber geht die Empfindsamkeit des Herzens verloren, mit dem Schmerz stirbt auch die Freude. Annahme des im Leben unvermeidlichen Schmerzes gehört zur Lebendigkeit des Herzens. Sufis haben diesen Schmerz offen auf sich genommen, ja ihn gesucht. Mit rückhaltloser Annahme großen Schmerzes kann es dann auch gelingen, diesen in Jubel zu wandeln, den Jubel des gebrochenen Herzens.

Der Weg der Sufis wird auch oft als der Weg des Herzens bezeichnet. Der Lebendigkeit und Kultivierung der verschiedenen Qualitäten des Herzens wird auf diesem Weg große Bedeutung zugemessen. Vielseitig und weitreichend sind die Qualitäten des offenen Herzens. Vom annehmenden, verstehenden, nicht urteilenden Herzen zum mitfühlenden, barmherzigen Herz, zum selbstlosen, wohlwollenden, auf das Wohl des anderen bedachten Herz, zum überfließenden, die ganze Welt umarmenden Herzen. All diese Qualitäten sind in den Namen Gottes enthalten und sind Gefährten auf dem Weg des Herzens.

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¹ Aus einem Brief an Gräfin Auguste zu Stolberg

 

Jahanara Begum (1614-81) war die älteste Tochter von Shah Jahan, dem 5. Mughal-Herrscher von Indien, und eine vielbeachtete Sufimeisterin. Sie und ihr Bruder Dara Shikoh waren in den Sufiorden der Qadiriyya eingeweiht (der zur Inayatiyya-Übertragungslinie zählt). Und Jahanaras Lehrer  Mulla Shah Badakhshi wollte sie sogar zu seiner Nachfolgerin an der Spitze der Qadiriyya ernennen, doch die Regeln des Ordens erlaubten das nicht. Jahanara schrieb u.a. eine Biographie von Moinuddin Chishti, der den Chishti-Orden (von dem sich die Inayatiyya herleitet) nach Indien gebracht hatte.

Porträt der jungen Moghul-Prinzessin Jahanara, vermutlich von Lalchand. Quelle: British Library, Public Domain.